Wenn die Arbeitsbelastung dauerhaft ein kritisches Maß überschreitet, kann chronischer Stress entstehen, der sich in Erschöpfung, Antriebslosigkeit und im Extremfall im Burnout äußert. Führungskräfte unterschätzen oft, dass emotionale Erschöpfung in vielen Fällen eine Folge unzureichend gestalteter Arbeitsprozesse ist.
Kurzimpuls
Mentale und emotionale Erschöpfung von Mitarbeitenden sind überwiegend eine Folge mangelhafter Gestaltung von Arbeitsprozessen. Das Prozessmanagement muss daher so weiterentwickelt werden, dass das Streben nach Produktivitätssteigerung und das Wohlbefinden des Personals verbunden wird. Zentrale Propositionen für ein menschenzentriertes Prozessmanagement sind:
1. Prozessgestaltung erfolgt „Human-centric by Design“: Dabei geht es darum, psychologische und physiologische Aspekte in das Prozessdesign zu integrieren, sodass die individuellen Stärken der Mitarbeitenden genutzt werden.
2. Technologieeinsatz berücksichtigt Mitarbeitende: Neue Technologien werden hierbei genutzt, um eine Allokation von Aufgaben zu erreichen, die mit den psychologischen und physiologischen Ressourcen der Mitarbeitenden in Einklang steht.
3. Echte Innovation im Prozessdesign: Anstatt bestehende Abläufe weiter zu optimieren, entwickeln Unternehmen neue, menschenzentrierte Prozesse, die den individuellen Bedürfnissen der Mitarbeitenden gerecht werden.
Defizite im heutigen Prozessmanagement
Zweifelsohne wurden im Prozessmanagement in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte erzielt. Konzepte wie Lean Management, Six Sigma oder Business Reengineering haben Unternehmen – gestützt durch Technologien wie ERP-Systeme, Internet, Cloud Computing, Blockchain und Künstliche Intelligenz – effizienter gemacht. Prozesse wurden dadurch schneller, digitaler und vielfach erst möglich (z.B. Online-Kontoeröffnung).
Dennoch werden zwei zentrale Ressourcen im Prozessmanagement bislang weitgehend vernachlässigt: die psychologischen Ressourcen (z. B. mentale Belastung durch Zeitdruck oder Konflikte) und die physiologischen Ressourcen (z. B. körperliche Belastung durch Schichtarbeit oder Gesundheitsrisiken). Obwohl bereits technische Möglichkeiten zur Analyse emotionaler Zustände bestehen, findet ein Abgleich zwischen Arbeitsanforderungen und verfügbaren Ressourcen kaum statt. Die Folge: Unternehmen entgehen die mentalen Belastungen ihrer Mitarbeitenden und Führungskräfte – mit langfristig negativen Folgen. Es braucht daher einen neuen Weg: Ein Prozessmanagement, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt.
Proposition 1: Prozessgestaltung muss „Human-centric by Design“ sein
Die Zukunft der Prozessgestaltung liegt in „maßgeschneiderten Prozessen“, die auch die Bedürfnisse der Mitarbeitenden berücksichtigen.
Menschen werden in gängigen Prozessmanagement-Ansätzen als Komponente neben Strategie, IT oder Governance aufgeführt – doch konkrete Ansätze zur Integration psychologischer und physiologischer Aspekte in die Prozessgestaltung sind kaum entwickelt. Viele Unternehmen versuchen inzwischen, ihre Prozesse vom Kunden her zu denken. Dies ist ein guter Schritt, reicht aber nicht aus. Die Zukunft der Prozessgestaltung liegt in „maßgeschneiderten Prozessen“, die auch die Bedürfnisse der internen Kunden – also der Mitarbeitenden – berücksichtigen. Der menschliche Faktor wird damit nicht länger als externe Variable betrachtet, sondern in die Gestaltung der Prozesse integriert.
Proposition 2: Technologieeinsatz ja, aber unter Berücksichtigung der Mitarbeitenden
Viel wichtiger ist es, mithilfe der neuen Technologien eine Allokation der Aufgaben zu erzielen, die im Einklang mit den psychologischen und physiologischen Ressourcen des Personals steht.
Unternehmen können und müssen heute alle Technologien nutzen, die zur Produktivitätssteigerung beitragen. Dabei darf es aber nicht nur darum gehen, das Personal auf ertragreichere Teile der Wertschöpfungskette zu verlagern oder die Frequenz der Arbeitsvorgänge zu erhöhen. Viel wichtiger ist es, mithilfe der neuen Technologien eine Allokation der Aufgaben zu erzielen, die im Einklang mit den psychologischen und physiologischen Ressourcen des Personals steht. Wenn Wahrnehmungen, Denkweisen, Neigungen und Talente von Mitarbeitenden und Managern in die Prozessgestaltung einfließen, kann dies die Qualität der Arbeit und das emotionale Klima im Unternehmen verbessern. Gerade KI könnte hierfür ein Werkzeug sein. Jedoch ist die Balance zwischen funktionaler Nutzung von Persönlichkeitsmerkmalen und Schutz der Privatsphäre sensibel und verlangt nach einem neuen Verständnis von Verantwortung im Technikeinsatz.
Proposition 3: Erforderlich ist Innovation statt Verbesserung bestehender Geschäftsabläufe
Ein echter Fortschritt im Prozessmanagement erfordert jedoch keine bloße Verbesserung bestehender Abläufe, sondern eine grundlegende Innovation der Arbeitsprozesse.
Viele Technologien zielen heute darauf ab, bestehende Prozesse zu optimieren. Dabei bleibt die Frage offen, ob diese Optimierungen tatsächlich eine Verbesserung für die Mitarbeitenden darstellen. Die Einführung neuer Technologien, die bestehende Prozesse schneller und effizienter machen, reduziert häufig die menschliche Interaktion und ignoriert die Wahrnehmungen und Befindlichkeiten der Mitarbeitenden. Ein echter Fortschritt im Prozessmanagement erfordert jedoch keine bloße Verbesserung bestehender Abläufe, sondern eine grundlegende Innovation der Arbeitsprozesse. Prozessinnovation bedeutet, neue, menschenzentrierte Arbeitsabläufe zu schaffen, die auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden zugeschnitten sind. Ein solcher Innovationsansatz fördert nicht nur die Zufriedenheit der Mitarbeitenden, sondern kann auch zu einer höheren Effizienz und Qualität der Arbeit führen.
Gleichgewicht zwischen Steigerung der Produktivität und Wohlbefinden der Mitarbeitenden
Der Weg zu einem menschenzentrierten Prozessmanagement erfordert eine tiefgreifende Veränderung der Unternehmensphilosophie und eine Neuausrichtung der Prozesse. Es geht darum, die Mitarbeiterin bzw. den Mitarbeiter nicht nur als Arbeitskraft, sondern als integralen Bestandteil des Prozesses zu sehen. Dies bedeutet, dass Unternehmen die psychologischen und physiologischen Bedürfnisse der Mitarbeitenden stärker in ihre Prozesse einfließen lassen müssen. Der Einsatz von Technologien sollte nicht nur auf Effizienzsteigerung abzielen, sondern auch dazu beitragen, das Wohlbefinden der Mitarbeitenden zu fördern.
Unternehmen, die diesen menschenzentrierten Ansatz verfolgen, werden langfristig nicht nur eine höhere Mitarbeiterzufriedenheit und -motivation erzielen, sondern auch ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern, da zufriedene und gesunde Mitarbeitende produktiver und engagierter arbeiten. Der Schlüssel zu diesem Erfolg liegt in der Integration von technologischen Innovationen, einem neuen Verständnis der Arbeitsprozesse und einer Unternehmenskultur, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt.
Download der Langversion "Schneller, höher, weiter? Ideen zur zukünftigen Gestaltung des Prozessmanagements" von Jürgen Moormann und Yevgen Bogodistov, Schmalenbach IMPULSE, 5. Jg. 2025, S. 1-8, DOI 10.54585/PYYG7446.
Zur Langfassung
Schneller, höher, weiter? Ideen zur zukünftigen Gestaltung des Prozessmanagements.
Aufsatz | 8 Seiten
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